3. Kapitel

„Ihr könnt euch gar nicht vorstellen,
wie grauenvoll es ist,
wenn ein ganzes Volk verängstigt
und eingeschüchtert ist.“



(…) Frau Obermayer erzählte und erzählte. Wie Hitler weiterhin die Massen beeindruckte. Wie der Zweite Weltkrieg begann. Wie Hans und Sophie nach München gingen. Hans studierte Medizin, Sophie Philosophie. Diese Zeit hatte Frau Obermayer natürlich nicht mehr aus eigenem Erleben in Erinnerung. „Zwischendurch war Hans auch für einige Monate Soldat, erst in Frankreich, dann in Russland“, erzählte sie. Martin musste sich spontan an die blöde Bemerkung von Tobias im Geschichtsunterricht erinnern: Jeder Schuss ein Russ! „Wenn ihr euch genauer für den Krieg in Russland interessiert“, meinte Frau Obermayer, als ob sie Martins Gedanken gelesen hätte, „dann müsstet ihr einmal den Herrn Wilmer befragen.

Er wohnt seit einigen Wochen hier im Heim. Ich glaube, er wurde auch von Herrn Hübner wegen eines Interviews angesprochen.“ – „Stimmt“, bestätigte Timo. Dann kam Frau Obermayer wieder auf die Weiße Rose zu sprechen. Von den Aktionen der Weißen Rose in München hatte sie erst später erfahren. „Zusammen mit Hans und Sophie bildeten zunächst nur fünf Personen den eigentlichen Kern der Weißen Rose. Sie schrieben Parolen gegen Hitler auf die Häuserwände von München und verschickten anonym Hunderte von Flugblättern in ganz Deutschland. Dabei hatten sie einige weitere Helfer. Zu ihrem geheimen Kreis in München kam später noch einer ihrer Professoren hinzu. Mit dem haben sie leidenschaftlich politische und philosophische Fragen diskutiert.“ Frau Obermayer griff wieder langsam nach ihrem Glas. „Aber Einzelheiten darüber weiß ich natürlich nicht.“ – „In dem Buch von Inge Scholl über die Weiße Rose haben wir die Texte der Flugblätter gelesen“, bemerkte Martin. „Dann habt ihr ja auch gemerkt, aus welch großer innerer Not diese Texte entstanden sind“, sagte Frau Obermayer und stellte das Glas zurück auf den Tisch. „Besonders belastet hat die Geschwister Scholl und ihre Mitstudenten die Tatsache, dass man sich eigentlich nirgendwo frei austauschen konnte. Jede kritische Bemerkung konnte lebensgefährlich sein, besonders nachdem Hitlers Erfolge im Krieg nachließen.“

„Aber irgendwo müssen die Geschwister Scholl doch eine Anregung bekommen haben“, warf Lena ein. „Ich meine, wann war der Zeitpunkt gekommen, dass sie trotz aller Gefahr etwas unternehmen wollten?“ Frau Obermayers starre Gesichtszüge hellten sich ein wenig auf. „Das kann ich euch nun wieder ganz genau sagen!“, erklärte sie. „Denn das habe ich in Ulm miterlebt.“ Dann wandte sie sich an Katharina: „Kathi, sei so gut, und nimm das Kissen wieder weg.“ Katharina zog das Kissen von Frau Obermayers Rücken hervor, Frau Obermayer lehnte sich zurück in ihren Rollstuhl. „Es war irgendwann im Frühsommer 1942. Hans Scholl war von der Front zurück und verbrachte einige Tage zuhause. Dann wollte er wieder zum Studium nach München gehen. Ich meine, es war an einem Samstagvormittag, da bin ich mit meinem Bruder zum Haus der Familie Scholl gegangen. Wir hatten irgendwas gemeinsam in der Stadt zu erledigen. Und auf dem Heimweg wollte mein Bruder kurz bei Hans vorbeischauen und ihn begrüßen. Er verehrte Hans heiß und innig. Er hatte zu dem HJ-Fähnlein gehört, das Hans angeführt hatte.“ Frau Obermayer schaute mit gespielter Strenge in die Runde: „Ihr erinnert euch doch noch? Der Junge mit der Drachenfahne!“ Die Jugendlichen nickten. „Als Hans Scholl uns öffnete, war er allein zu Hause. Er war sehr aufgeregt, denn an diesem Morgen hatte er einen Brief im Briefkasten gefunden und geöffnet. Der Brief war ohne Absender.“ – „Und was war das für ein Brief?“, fragte Lena. „Ein eng beschriebenes Blatt, hektographiert.“ – „Bitte was?“, fragte Jakob. „Hektographiert“, wiederholte Frau Obermayer. Dann musste sie lächeln. „Wer hätte das gedacht, dass ich den jungen Leuten noch etwas Technisches erklären muss! Ein Hektograph war damals ein Druckapparat, den man in Behörden oder Schulen verwendete.“ – „So was wie ein Fotokopierer?“ – „Ja, so in der Art“, bestätigte Frau Obermayer. „Oder wie ein Scanner!“, meinte Timo. „Bitte was?“, fragte jetzt Frau Obermayer. Die ganze Runde musste spontan loslachen. Dann griffen sie alle fast gleichzeitig zu ihren Gläsern und tranken einen Schluck. „Bitte, schenkt euch nach“, forderte Frau Obermayer auf. Plötzlich tauchte Merlin in der Terrassentür wieder auf, angelockt von dem Gelächter. Neugierig schaute er ins Zimmer. „Du kannst noch weiter im Garten spielen“, ermunterte ihn Jakob. „Wir bleiben noch etwas hier.“ Als habe er jedes Wort verstanden, drehte sich Merlin wieder um und verschwand in Richtung der Franziskus-Skulptur.

„Und was war denn so besonderes an diesem hektographierten Blatt, das Hans Scholl im Briefkasten fand?“, fragte Lena gespannt. Frau Obermayer trank immer noch, wodurch sich die Spannung steigerte. „Es war die Abschrift einer Galen-Predigt“, antwortete sie  schließlich. „Galen-Predigt?“, wiederholte Timo. „Ja. Galen war damals ein katholischer Bischof, der offen gegen Hitler protestierte. Er prangerte öffentlich die Beschlagnahmung von Klöstern an. Er predigte gegen die Ermordung von Behinderten oder die ideologische Vergiftung der Jugend. Seine mutigen Predigten wurden zu Tausenden abgeschrieben und heimlich in ganz Deutschland verbreitet. Das war lebensgefährlich, wenn man dabei erwischt wurde.“ Ihre Stimme wurde leise. „Ihr könnt euch  gar nicht vorstellen, wie grauenvoll es ist, wenn in einer Diktatur ein ganzes Volk verängstigt und eingeschüchtert ist.“

„Und Hans Scholl?“, fragte Martin. Frau Obermayer räusperte sich. „Ja, jetzt bin ich abgeschweift. Wie gesagt, Hans hatte so eine abgeschriebene Galen-Predigt in den Händen, als mein Bruder und ich bei ihm vorbeischauten. Er nahm kaum Notiz von uns. Immer wieder las er den Text durch. Es machte ihn übrigens nicht im geringsten nervös, dass mein Bruder und ich anwesend waren. Ich höre noch, wie er vor sich hin murmelt: ‚Endlich hat einer den Mut, zu sprechen!’ Und dann sagte er: ‚Man sollte einen Vervielfältigungsapparat haben.’“ Frau Obermayer blickte zu Lena. „So, Lena, jetzt weißt du die Antwort, wie die Weiße Rose auf die Idee kam, selbst Flugblätter zu entwerfen und zu verbreiten.“ (…)