Hans Scholl Worte

40 geistliche Worte von Hans Scholl

1b

1.) Wir wollen uns nicht als Märtyrer fühlen, obwohl wir manchmal Grund dazu hätten. Denn die Reinheit unserer Gesinnung lassen wir uns von niemanden antasten. Unsere innere Kraft und Stärke ist unsere stärkste Waffe.

(Hans Scholl, 27. November 1937)


2.) In meiner Brusttasche trage ich die Knospe einer Rose. Ich brauche diese kleine Pflanze, weil das die andere Seite ist, weit entfernt von allem Soldatentum und doch kein Widerspruch zu dieser Haltung. Man muss immer ein kleines Geheimnis mit sich herumtragen, vor allem bei solchen Kameraden, wie ich sie habe.

(Hans Scholl, 27. Juni 1938)


3.) Unsere Kaserne ist grauenhaft. Trotzdem will ich heute Blumen kaufen und sie ins Zimmer stellen. Blumen und helle Augen erhellen die schmutzigste Stelle der Erde.

(Hans Scholl, 23. April 1941)


4.) Aus einer kleinen Lücke im dunklen Wolkenmeer brach ein Sonnenstrahl, und die Welt lachte und glitzerte im Licht des Himmels. Ich stand da und staunte. Und dachte: Hält uns Gott für Narren, da er uns die Welt vollendet schön im Glanze seiner Herrlichkeit erhellt, ihm zu Ehren? Und andererseits nur Raub und Mord? Was ist nun wahr? Soll man hingehen, ein kleines Haus bauen mit Blumen vor den Fenstern und einem Garten vor der Tür und dort Gott preisen und danken und der Welt mit ihrem Schmutz den Rücken kehren? Ist nicht Weltabgeschiedenheit Verrat, Flucht? Das Nacheinander ist zu ertragen. … Aber das Nebeneinander ist Widerspruch. Trümmer und Licht zur gleichen Zeit. Ich bin klein und schwach, aber ich will das Rechte tun.

(Hans Scholl, 2. Mai 1941)


5.) Ich wünsche Dir, dass Du aufgeschlossenen Herzens allem Guten bleibst, das dort an Dich herantritt, aber unbedingt konsequent das Schmutzige meidest und Deine Wege weitergehst, ohne Dich um die Andern allzu viel zu kümmern. Sie nehmen Dir nur Deine besten Perlen, um sie vor die Schweine zu werfen.

(Hans Scholl, 6. Juni 1941)


6.) Was sind all die Zweifel. Doch nur Zweifel an sich selbst. Die Unsicherheit liegt selten im andern oder in der Beziehung zu ihm begründet, sondern meist im eigenen Herzen, und man versucht diese zu verallgemeinern.

(Hans Scholl, 17. Juli 1941)


7.) Der Mensch inmitten seiner Welt ist wie ein Feuer, das unruhig flackert und uns scheinbar unberechenbar entfacht, brennt und verglüht. Soll man sich über diese Fährnisse hinwegtäuschen? Wäre es nicht besser, zugrunde zu gehen an den ewig nagenden Schmerzen, als leicht und fröhlich, aber falsch durch die Welt zu wandeln? Gibt es denn keinen Trost? Der Trost allein ist die Liebe. Denn die Liebe bedarf keines Beweises, sie ist da, wie Gott da ist, den man wohl beweisen könnte, dessen Dasein aber die Menschen witterten, lange bevor es Beweise gab. Ja, es gibt eine Liebe um ihrer selbst willen; diese ist ungebunden und entzieht sich jedem menschlichen Richtspruch.

(Hans Scholl, 17. Juli 1941)


8.) Man ist in vieler Beziehung einsam, vielleicht im Grunde überhaupt, aber wann war dies anders? Und ich pfeife doch auf eine Scheinwelt. Das alles heißt aber nicht, dass ich Menschen als Grübler gegenüberstehe, vielmehr bemühe ich mich, die Menschen zu sehen, wie sie sind, und ihnen gleichmütig zu erscheinen. Ich scheue mich auch nicht vor dem übelsten Geruch und der dreckigsten Farbe. Sie sind da. Die Schatten sind um des Lichtes willen da. Aber das erste ist das Licht.

(Hans Scholl, 12. August 1941)


9.) Wenn ich dir einen guten Rat geben kann, dann den, abends einen Psalm zu lesen. Das ist etwas vom schönsten der Weltliteratur und noch mehr.

(Hans Scholl, 12. August 1941)


10.) Diese Armut, die zum „absoluten“ Christentum führt, muss im Geistigen zuallererst und erst sekundär im Materiellen begründet liegen. Aber auch hier dieses Paradoxon: Die materielle Armut wird zum Weg, der zu jener geistigen führt. Die Armut, die ich meine, … fordert nicht den Besitz des Reichen, sondern verachtet ihn, weil sie um die eigentlichen Werte weiß. – … Ich versuche den Sinn der Armut zu begreifen, der ich ein Besitzender bin und dem nichts mangelt.

(Hans Scholl, 24. Oktober 1941)


11.) Ich befinde mich in einer geistigen Krise, der bedeutendsten meines Lebens, und es ist verständlich, dass ich es sehr ernst nehme und mich mit bürgerlichen Trostmitteln nicht trösten kann. Zum Glück brauche ich auch gar keine. Ich befinde mich in einem Seelenzustand, wo mir von außen her überhaupt nicht geholfen werden kann, weil ich im tiefsten Innern schon überwunden habe, erkannt habe und glücklich bin. Welch ein Paradoxon! Mich schmerzt der Kopf, obgleich ist glücklich bin. Es ist das Glück des Siegers, der das Ende des Kampfes voraussieht.

(Hans Scholl, 28. Oktober 1941)


12.) Dieser Krieg ist seinem eigentlichen Wesen nach ein geistiger; mir ist, als wäre manchmal mein kleines Gehirn das Schlachtfeld für alle diese Kämpfe. Ich kann nicht abseits stehen, weil es für mich abseits kein Glück gibt, weil es ohne Wahrheit kein Glück gibt – und dieser Krieg ist im Grunde ein Krieg um die Wahrheit. Alle falschen Throne müssen erst zersplittern, dies ist das Schmerzliche, um das Echte unverfälscht erscheinen zu lassen. Ich meine dies nicht politisch, sondern persönlich, geistig. Ich bin vor die Wahl gestellt worden.

(Hans Scholl, 28. Oktober 1941)


13.) Hinüber ans andere Ufer wollen alle gelangen. Jedoch getragen wird niemand dorthin. Uns bleibt nur das Suchen nach einer Fähre, das oft ein Gleiten, ein Fallen und ein Sich-wieder-aufrichten wird. Denn da ist ein tiefliegender reißender, dunkler Strom; Nacht, und kein Stern steht am Himmel. Kein Pfad und keine Brücke. Nur ein schwaches Licht, geschützt vor dem Winde am anderen Ufer, und nur eine Fähre, die hinüberfährt. Die Fähre aber heißt Armut. Wer das Licht sieht, muss erst arm werden, um im Lichte zu sein, das die Hungrigen seit zwei Jahrtausenden erleuchtet.

(Hans Scholl, November 1941)


14.) Oh eitle Toren, die ihr Euch lieben den Fluten preisgebt, darin ihr verloren seid! Ihr erblickt das Licht und könnt es nicht erreichen. Ihr seht den Weg und wollt ihn nicht beschreiten! Wie wünschte ich Manchem aus Liebe die Not und das Elend, damit er die Armut erkenne! Armut ist stärker als Reichtum. Armut ist die Fähigkeit des Menschen, alten Überfluß ohne Reue in den Wind streuen zu können; allen Besitz unter die geistigen Werte zu stellen. Die Armut führt den Menschen vor die absolute Wahl.

(Hans Scholl, November 1941)


15.) Der Krieg wird uns alle sehr arm manchen. Jede Hoffnung auf ein beglückendes Ende müssen wir fahren lassen. Zunächst werden der Hunger und das Elend keinen Schritt von unserer Seite weichen, indes aus zerstörten Städten, zerstörten Ländern, zerstörten und halb ausgerotteten Völkern die Menschen nach Diamanten suchen, die unzerstörbar im Schutt vergraben sind. Dennoch wünschen wir, der Kelch möge nicht an uns vorübergehen. Er soll bis zur Neige ausgetrunken werden. … Nur so wird künftig eine falsche Glorifikation der Geschichte unmöglich sein. Der Krieg wird die große Armut über Europa bringen. Vergesst dies nie, meine Freunde, die Armut ist der Weg zum Licht.

(Hans Scholl, November 1941)


16.) Ich habe Abbildungen der römischen Christusdarstellungen gesehen. Woher wusste ich, ohne auch nur einen Augenblick zu zögern, dass Christus nicht so ausgesehen hat? Betrachte ich dagegen einen Christus Dürers oder Giottos oder des Griechen Theotocopuli, weiß ich da nicht ebenso unmittelbar, dass diese dem wahren Christus viel näher sind? … Was aber in unserem Herzen diesen geheimnisvollen Einklang erzeugt und was wir an jedem einzelnen Bild als dem wahren Wesen Jesu entsprechend empfinden, steigt sich in dem Bilde des Turiner Grabtuches zu der höchst möglichen Vollkommenheit, die ein Mensch in seinem Verlangen, Christus zu schauen, wohl ahnen, aber nie ganz erreichen kann.

(Hans Scholl, Dezember 1941)


17.) „Dass es gerade die Technik sein musste“, hat mir neulich jemand geschrieben, der durch diese Erscheinung (das Foto-Negativ des Turiner Grabtuches; Anm.) ebenso erschreckt und zugleich erfreut war wie ich, ja, dass es gerade die Technik sein musste, die dieses Bild entdeckte, die Technik, die auch die Waffen des Krieges zu Maschinen machte und jetzt ihre Triumphe feiert über die Menschen. Ist diese Technik so gerechtfertigt? – Claudel spricht von der „zweiten Auferstehung“, der Auferstehung Christi für das 20. Jahrhundert. Fast 2000 Jahre hat das Bild des Gottessohnes im Unsichtbaren existiert, geschlafen, gewartet; unserer Zeit jedoch war es vorbehalten, den Bann zu lösen und die Wirklichkeit zu sehen.

(Hans Scholl, Dezember 1941)


18.) Es ist im Grunde vieles anders geworden, d.h. es hat sich im Grunde etwas gefestigt, das mir zum Halt geworden ist in dieser Zeit, die so sehr nach Werten sucht. Ich habe den einen, den einzig möglichen und dauernden Wert gefunden. … Es sind Dinge, die man mit rationalem Denken wohl nicht erschöpfen kann, unbegreiflich nach außen, im Innersten aber doch begriffen. Ich will weit gehen, so weit als möglich, auf den Bahnen der Vernunft; jedoch ich erlebe, wie ich ein Geschöpf aus Natur und Gnade bin, einer Gnade allerdings, die die Natur voraussetzt. Ich werde Dir diese meine innerste Entwicklung später besser beschreiben können. Jetzt bin ich noch zu sehr mitten darin. Ich möchte jetzt auf keinen Fall vom Wesentlichen abkommen.

(Hans Scholl, 7. Dezember 1941)


19.) Ich bin gegenwärtig im besten Sinne des Wortes ein „homo viator“, ein Mensch auf dem Wege, und werde es hoffentlich immer bleiben. Ich habe endlich nach vielen, fast unnütz verflossenen Jahren das Beten wieder gelernt. Welche Kraft habe ich da gefunden! Endlich weiß ich, an welcher unversieglichen Quelle ich meinen fürchterlichen Durst löschen kann. Dies ist das Wesentlichste, das ich Dir mitteilen kann; alles andere erst in zweiter Linie!

(Hans Scholl, Januar 1942)


20.) Auch ich verachte alle harten Menschen weit mehr als die schweren Sünder. Seelenhärte ist das Abscheulichste unter den Menschen. Sie entspringt der letzten Lebensunfähigkeit und raubt dem Menschen das Eigentlich-Menschliche. Tapferkeit ist etwas ganz anderes. Der Sinn der Tapferkeit wird gegenwärtig vollkommen gefälscht. War Christus nicht der Tapferste von allen? Und dennoch hat er nach Wasser verlangt, als ihn dürstete. Welche Übel doch Kant angerichtet hat mit seinem kategorischen Imperativ! Kant, Härte, Preußentum – der Tod jeden geistigen Lebens.

(Hans Scholl, Januar 1942)


21.) Was uns in einem Monat, wenn das Semester zu Ende sein wird, bevorsteht, liegt völlig im Dunkeln; es interessiert mich auch durchaus nicht. Es kann ja kommen, was da wolle, ich habe Anker geworfen, im Grunde kann ich nicht mehr gestört werden.

(Hans Scholl, Januar 1942)


22.) Was ich Dir vor allen Dingen wünsche und was notwendig ist: Dass Du bald nicht mehr an allzu enge Grenzen gebunden sein mögest, dass in weitere Räume zu schauen Dir nicht mehr verwehrt sei, sowohl in physischer wie auch in geistiger Hinsicht. Je höher wir steigen, desto tiefer die Abgründe, und beides, die Höhen und die Tiefen des Geistes zu umspannen muss unser Wunsch sein. Wer den Abgrund nicht sieht, fällt hinein; wem aber kein Licht leuchtet, der sucht vergeblich und seine ermüdeten Augen dienen ihm nutzlos. Das Licht zu finden auf unserem Wege ist jetzt unsere Aufgabe.

(Hans Scholl, 28. Februar 1942)


23.) So groß sind die Wirrnisse heute, dass man oft nicht weiß, wohin man sich wenden soll ob der Vielheit der Dinge und Ereignisse; da stehen solche elementaren Worte wie Leuchtfeuer im bewegten Meer. So verstehe ich die Armut, dass man in solchen Momenten allen Ballast von sich wirft ohne Zagen und mächtig und frei auf das Eine zustrebt. Aber wie selten sind solche Augenblicke, wie oft und immer wieder sinkt der Mensch zurück ins Graue, ins Ungewisse, in den Strom ohne Richtung. Und Dämonen sind immer am Werk, ihn bei jeder Gelegenheit an den Haaren zu packen und ihn zu sich hinab zu ziehen.

(Hans Scholl, 4. Mai 1942)


24.) Ich glaube an die unermessliche Kraft des Leides. Das echte Leid ist wie ein Bad, aus dem der Mensch neu geboren hervorgeht. Alles Große muss erst geläutert werden, ehe es die enge Brust eines Menschen verlassen und in die größere Welt hinaustreten darf. Wir wollen ihm nicht entrinnen, nicht bis an unser Ende. Wird nicht Christus stündlich tausendfach gekreuzigt? Und werden die Bettler und Kranken nicht heute wie immer von allen Schwellen verstoßen? Dass die Menschen gerade das nicht sehen, was sie zu Menschen macht: die Hilflosigkeit, das Elend, die Armut.

(Hans Scholl, 24. August 1942)


25.) Der Herbst hat ja die ersten Blätter in den Kronen schon gelb gefärbt und die Birken, ja die Birken, die stehen zwischen den hohen, ernsten Tannen gleich jungen Mädchen und zittern vor Kälte. Es ist noch nicht jedem Auge offenbar, aber es liegt schon wie ein ganz dünner, zarter Hauch über Bäumen und Wiesen. Das ist die Trauer der Natur, die alle Schwermut nach außen kehrt und in Schönheit verwandelt. Ich verstehe nicht, dass viele Menschen dem Tod so fremd sind. Ist er es nicht, der das Leben wertvoll macht, oder besser: gemacht hat? Der Tod macht uns zu Menschen, wie auch die Sünde. Die Blume ist schön, weil sie vergeht. Die Blume vergeht, aber die Schönheit bleibt. Ja, noch mehr: der Tod verklärt die Schönheit.

(Hans Scholl, 2. September 1942)


26.) Wo es keinen Anfang gibt und keine Mitte und kein Ende, wo der Mensch heimatlos wird und nur die Schwermut sein Herz erfüllt – hier sind die vielen Handgriffe, an welche der Mensch sich so krampfhaft klammert, wie Heimat, Vaterland oder Beruf, gleichsam abgerissen, der Boden schwindet unter den Füßen, man fällt und fällt, und während man nicht weiß wohin, verlassen alle die treuen Begleiter ihren gebrochenen Gebieter. … Wo jede Heimat aufhört, ist Gott am nächsten. Daher die Sehnsucht im jungen Menschen, aufzubrechen und alles hinter sich zu lassen und ziellos zu wandern, bis auch der letzte Faden gerissen ist, der ihn gefesselt hielt, bis er in der weiten Ebene allein und nackt Gott gegenüber steht. Verklärten Auges wird er dann seine alte Erde wiederfinden.

(Hans Scholl, 30. Juli 1942)


27.) Blumen blühen und Kinder spielen ahnungslos zwischen den Trümmern. O, Gott der Liebe, hilf mir über meinen Zweifel hinweg. Ja, ich sehe die Schöpfung, die Dein Werk ist, die gut ist. Aber ich sehe auch das Werk der Menschen, unser Werk, das grausam ist und Zerstörung und Verzweiflung heißt und das die Unschuldigen immer heimsucht. Erbarme Dich dieser Kinder! Ist das Maß der Leiden noch nicht bald voll? Warum wird das Leid so einseitig ausgestreut? Wann fegt ein Sturm endlich all diese Gottlosen hinweg, die Dein Ebenbild beflecken, die einem Dämon das Blut von Tausenden von Unschuldigen zum Opfer darbringen?

(Hans Scholl, 31. Juli 1942)


28.) Heute vor einer Woche waren wir in Wiasma. Dort konnte ich in die russische Kirche gehen. Das war ein anderer Gottesdienst als bei unseren nüchternen Mitteleuropäern. … Die Herzen aller Gläubigen schwingen mit, man spürt die Bewegung der Seelen, die sich ausschütten, die sich öffnen nach diesem grauenvollen langen Schweigen, die endlich heimgefunden haben zu ihrer wahrhaftigen Heimat. Ich möchte weinen vor Freude, denn auch in meinem Herzen löst sich langsam eine Fessel nach der andern, ich möchte lieben und lachen, denn ich sehe, dass über diesen gebrochenen Menschen immer noch ein Engel schwebt, der stärker ist als die Mächte des Nichts.

(Hans Scholl, 9. August 1942)


29.) Der geistige Nihilismus war für die europäische Kultur eine große Gefahr. Sobald er aber seine letzte Auswirkung erfahren hat, also im totalen Kriege, dem wir jetzt endlich erlegen sind, sobald er gleich einem grauen Wolkenmeer den großen Himmel bedeckt hat, ist er schon überwunden. Nach dem Nichts kommt nichts mehr. Es muss aber etwas kommen, weil niemals alle Werte bei allen Menschen zerstört werden können, sind immer noch Hüter da, die das Feuer entfachen und es von Hand zu Hand weitergeben, bis eine neue Welle der Wiedergeburt das Land überschwemmt. Der Wolkenschleier ist gleichsam zerrissen von der Sonne eines neuen religiösen Erwachens.

(Hans Scholl, 9. August 1942)


30.) Die Schwermut treibt den Menschen nicht zum Selbstmord. Ist er einmal so weit, sich selbst preiszugeben, indem er in einer letzten, ungeheuren Handlung sich selbst den Tod bereitet, dann hat ihn die Schermut schon ganz verlassen, dann war die Schwermut nicht schwer genug, ihn zu halten. Denn in der Schwermut handelt der Mensch nicht mehr. Er ist gleichsam mit hundert Ankern in der abgründigen, unermesslichen Tiefe seiner eigenen Seele festgehalten, indes alle Stürme unbemerkt über ihn dahinjagen. Schwermut ist beides, Anker und Tiefe, ja, man kann sagen, der ganze Mensch ist beides, das eine nicht ohne das andere.

(Hans Scholl, 17. August 1942)


31.) Je unergründlicher der Abgrund, desto schwerer die Schwermut – ein Paradoxon taucht auf, das Furcht einflößt und Mittelmäßige zum Schwitzen bringt: Derjenige, dessen Seele bei zunehmendem Sturme stiller und stiller wird und schließlich in einer tödlichen Verharrung scheinbar ruht, ist der Schwermütige, der tiefe und große Mensch. Der andere hingegen, der Mittelmäßige und Oberflächliche, lässt sich treiben, wird bald hierhin, bald dorthin geworfen, seine Seele hüpft auf seiner Oberfläche wie ein Ruderboot auf dem Meere.

(Hans Scholl, 17. August 1942)


32.) Es kann niemand schöner dichten als es Goethe getan hat. Er … hat die Schönheit des Kosmos besungen. Aber das Chaos hat er nicht besungen. Er hat sich nie aller seiner reichen Kleider entledigt und ist nie unter den Ärmsten und den Kranken gewandelt. Er konnte es nicht, weil er hätte hinuntersteigen müssen von seinem Thron. Weil ihm sein klarer Geist sagte, dass es mit dem Hinuntersteigen nicht getan ist. Man muss hinuntergezogen werden wie von einem Magneten, so, dass man alles Bindende mit einer einzigen Geste von sich wirft und nun selbst arm ist und alles frühere vergessen hat. Da sehe ich Franz von Assisi und Beethoven und Rembrandt. Bettler und Sünder, die Christus erlöst hat.

(Hans Scholl, 22. August 1942)


33.) Dostojewski ist in die Hölle nicht hinunter gestiegen, aber er wurde hineingerissen, weil er Augen hatte zu sehen. Sein Ohr hörte die Klage, die aus seiner Seele aufstieg und in den grauenhaften Misston aller Geschlagenen und Verlassenen einstimmte. Er hat die Masken nicht heruntergerissen, weil er ihrer nicht gewahr wurde. Er blickte in das Dunkel und sah, weil sein Auge nicht von eine falschen Sonne geblendet war. Aus der Sünde fand er zu Christus, weil ein Sünder, der Buße tut, bei Gott mehr gilt als hunderttausend Gerechte.

(Hans Scholl, 22. August 1942)


34.) Wenn ich jetzt noch ein Ziel verfolgen möchte, falls ich jemals wieder in freier Luft werde atmen können, dann eigentlich kein anderes mehr, denn als Bettler nach Asien zu ziehen von Dorf zu Dorf, über einsame Ebenen und durch geheimnisvolle Wälder. Unter niederen Tannen schlafen oder im Straßengraben, und weiter, immer weiter wandern. Gott gebe mir kein irdisches Ziel, dass ich nirgends Halt mache bis an mein Ende.

(Hans Scholl, 28. August 1942)


35.) Ich will all die falschen Gärten verlassen und meine Füße mit Staub bedecken, den Dichtern und Schwätzern will ich absagen und die Weisheit unter den Sternen suchen. Vielleicht wandere ich ein zweites Mal ins Gefängnis, vielleicht ein drittes und viertes Mal. Ein Gefängnis ist noch lange nicht das übelste, vielleicht ist es sogar etwas vom besten.

(Hans Scholl, 28. August 1942)


36.) Hier sterben täglich zehn, das ist noch nicht viel, und es wird kein Aufhebens davon gemacht. Wie viel Blumen werden achtlos zertreten? Wird nicht Christus stündlich hundertfach gekreuzigt? Und doch blühen Kinder auf, unaufhaltsam, wie junge Birken, zart, mit glänzenden Augen?

(Hans Scholl, 28. August 1942)


37.) Ich habe eine Ortsveränderung erfahren, die mich von allen blühenden Gärten der Vergangenheit getrennt und in die große Ebene gestellt hat, wo ich eine Einsamkeit gefunden habe, nach der ich gedurstet habe seit Jahren. … Das Beste wäre, jetzt zu brechen und immer weiter ganz allein und bar jeglicher Habe nach Osten zu wandern, immer weiter, über den Ural, quer durch Sibirien bis nach China, wenn, ja wenn ich nicht andererseits Europäer wäre und in dieser zwölften Stunde Europa nicht verlassen darf. Nur aus diesem Grund will ich wieder zurück nach Deutschland, auf dass ich dem Abendlande und das Abendland mir nicht verloren gehe.

(Hans Scholl, 8. Oktober 1942)


38.) Du darfst nicht vergessen, dass der Mensch wesentlich intellektuell erschaffen worden ist! Er kann also nicht, wie die Pflanzen oder das Tier, ohne es zu wissen unbekümmert natürlich dahin leben, weil ihm sein Geist keine Ruhe lässt, weil er um die Zweideutigkeit in dieser Welt weiß, weil er um den Tod, der ihm droht, weiß. Erst wenn dieser Geist die Natur überwunden hat, ist auch der Tod nicht mehr. Die Natur ist ebenso göttlichen Ursprungs, wie der Geist, aber sie ist durch das Hinzutreten des Menschen aus ihrer ruhigen Bahn geraten, sie ist vielfach pervertiert (die Natur des Menschen), gefallen und bedarf der Erlösung.

(Hans Scholl, 18. Dezember 1942)


39.) Ich weiß, dass Du dasselbe denkst wie ich, aber gerade dies ist die einigende Antwort: Nicht so sehr uns selbst zu betrachten, als die Dinge, die Welt, die Geister, wie sie ohne uns und unabhängig von uns existieren. Dann wird es nicht mehr weit sein zu der eigentlichen Liebe zu Allem.

(Hans Scholl, 18. Dezember 1942)


40.) Nicht von der Masse rede ich,
sondern von einer Elite des Volkes,
die für den geistigen Gehalt und die Richtung
des ganzen Volkes verantwortlich ist:
die also in diesem Jahrhundert und wahrscheinlich
in schon früheren so sehr versagt hat, dass das
geistige Niveau seiner Pfeiler beraubt
ins Chaotische gestürzt ist –
diese Elite ist heute, da sie das drohende
Verhängnis ahnt –
zu einem noch größeren Irrtum fähig:
sich abzuschließen von der realen Welt
mit ihren Irrtümern und ein Eigendasein zu führen –
ein l’art pour l’art im weitesten Sinn zu betreiben.
Es gibt aber für sie keine größere Gefahr als die
Flucht ins Ästhetische.

(Hans Scholl, evtl. Anfang 1943)