(...) „Victor“ heißt auf deutsch „Sieger“. Als Held, als Sieger wurde St. Victor hier verehrt, lange ehe die deutsche Sage ihrer schönsten Heldengestalt, dem edlen Siegfried, Xanten als Heimat gab. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass die dichtende Sage gerade darum Xanten zur Heimat Siegfrieds gemacht hat, weil alle deutschen Gaue davon wussten, dass in Xanten tatsächlich einst ein Held, ein Sieger gelebt hat, und weil damals schon Jahrhunderte lang St. Victor, der sieghafte Held in Xanten, die höchste Verehrung genoss. Wie dem auch sei: tatsächlich sind wir heute die Fortsetzer und Erhalter einer durch anderthalb Jahrtausende geschichtlich bezeugten Tradition unserer Vorfahren, wenn wir den christlichen Märtyrern von Xanten, St. Victor und seinen Genossen, in der Victorstracht und in dieser Feier unsere Verehrung darbringen; wenn wir heute gemeinsam auf ihr Vorbild schauen, um von ihnen zu lernen; wenn wir zum Himmel aufschauen in der Zuversicht, dass sie dort für uns beten!
(...) Wie viel Dank ist die Menschheit schuldig diesen Blutzeugen nicht nur des Christenglaubens, sondern auch der Menschenwürde, die sie mit ihrem Blut und Leben verteidigt haben! Denn in dem Augenblick, in welchem menschliche Obrigkeit in ihren Befehlen dem klar erkannten, im eigenen Gewissen bezeugten Willen Gottes widerstreitet, hört sich auf, „Gottes Dienerin“ zu sein, zerstört sie ihre eigene Würde, verliert sie ihr Recht zu gebieten, missbraucht sie ihre Macht zu belohnen und zu bestrafen, und versucht die freventlich, die von Gott gegebene Freiheit der menschlichen Persönlichkeit, das Ebenbild Gottes im Menschen zu entwürdigen!
„Lieber tot, als Sklave!“ Dieses stolze Wort eines ehrliebenden Mannes hat einen wahren Sinn. Dienende Stellung, Beschränkung, äußerer Freiheit, ja sogar irgendeine Art sog. Leibeigenschaft mag irgendwie erträglich sein und verträglich mit der Menschenwürde, die dadurch wohl beeinträchtigt, aber nicht geleugnet und vernichtet wird. Aber ein Gehorsam, der die Seelen knechtet, der in das innerste Heiligtum der menschlichen Freiheit, in das Gewissen greift, ist roheste Sklaverei. Das ist schlimmer als Mord; denn es ist eine Vergewaltigung der menschlichen Persönlichkeit; das ist der Versuch, das Ebenbild Gottes im Menschen zu zerstören, das ist ein Angriff gegen Gott selbst, der jede Menschenseele nach seinem Ebenbild geschaffen und zur Teilnahme an seiner Herrlichkeit berufen hat, und vor dem Herrscher und Beherrschte in gleicher Schuld und Verantwortung stehen.
(...) Das ist der wahre Sinn des heute so oft gebrauchten Wortes Gewissensfreiheit: nicht, dass jeder einzelne nach Lust und Laune und Willkür sich einen Gott und eine Religion machen und selbstherrlich die Wünsche seines Herzens als Forderungen des Gewissens aufstellen kann, sondern, dass alle Menschen, hoch und niedrig, Herrscher und Beherrschte ihr Gewissen formen nach der unveränderlichen Gotteswahrheit, ihr Handeln gestalten nach dem heiligen Gottesgesetz, das das im Lichte der göttlichen Wahrheit geformte eigene Gewissen als verpflichtende Norm des Handelns ihm vorstellt. Nicht nur Katholiken, nein, alle ehrliebenden, rechtlich denkenden Menschen haben diese Freiheit des Gewissens, die mit der Unverletzlichkeit des Gewissens anerkannte Majestät Gottes geachtet.