Hirtenbrief zu den „Sittlichkeitsprozessen“

9. Juni 1936:

Fast alle Zeitungen bringen in letzter Zeit Berichte über Gerichtsverhandlungen gegen Personen, die wegen hässlichster Verfehlungen angeklagt und zum Teil schon verurteilt sind. Wie die Überschriften und Berichte vielfach hervorheben, befinden sich unter den Beschuldigten solche, die früher einer Ordensgenossenschaft angehört haben, und andere, die bis jetzt zu Ordensgenossenschaften gehören. Obgleich die Verhandlungen unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfinden, werden in den Zeitungen mit kaum verhüllter Deutlichkeit Straftaten genannt und umschrieben, welche zu jenen Sünden gehören, die, wie der hl. Paulus sagt, unter uns „nicht einmal genannt werden sollen“ (Eph 5,3). Wir bedauern schmerzlich diese Art der Berichterstattung, insofern sie für die Jugend eine Gefahr, für alle anständigen Menschen ein Ärgernis, für alle schuldlosen Mitglieder der betreffenden Ordensgenossenschaften eine ungerechte Ehrenkränkung enthält und eine Ausnahme bildet von der sonst üblichen Berichterstattung bei ähnlichen Prozessen, bei der in der Regel die Zugehörigkeit des Beschuldigten zu bestimmten Gemeinschaften nicht bekannt gegeben wird.  


(...) Man hat gesagt: „Wenn diese Prozesse zu Ende sind, werden die Katholiken wohl ihre Achtung vor den Ordensleuten verloren haben.“ Wer so spricht, der kennt weder die katholische Kirche noch das katholische Volk. Keiner verurteilt wirkliche, frei und bewusst begangene Vergehen, erst recht bei Ordensleuten und Priestern, schärfer als das katholische Volk; es tut das freilich mit dem Untertone seelischen Schmerzes über den Verirrten. Das katholische Volk, aus dessen Familien unsere Ordensleute hervorgegangen sind, vor dessen Augen sie leben und wirken, weiß, dass in Deutschland eine große Schar ausgezeichneter Ordenspriester Seite an Seite mit unseren Weltpriestern treu und selbstlos in der Seelsorge arbeitet, dass rund 75.000 Ordensschwestern und über 3.000 Brüder im Dienste der christlichen Caritas stehen, und dass viele Hundert von ihnen in dem schwersten und gefährlichsten Caritasdienst an den Schwachsinnigen, Idioten und Geisteskranken alt und grau geworden sind als untadelige Menschen und Ordensleute.

Darum lässt sich das katholische Volk nicht irremachen in seiner Hochachtung vor all jenen Ordensleuten, die auf alles verzichtend, sich ganz und selbstlos nur dem Dienste an den Armen und Kranken jeglicher Art weihen. Es bewahrt diese Hochachtung und Liebe zu seinen Ordensschwestern und -brüdern, auch wenn es bei manchen von ihnen menschliche Armseligkeiten sieht und gar erfahren muss, dass solche am Heiligsten zum Verräter geworden sind, bei denen man es am wenigsten erwarten sollte. Das wirklich katholische Volk ist im übrigen gebildet und gerecht genug, um zu wissen, dass man Sünden und selbst Verbrechen einzelner niemals der Gemeinschaft einer guten Familie, eines Standes, eines Ordens oder gar der Kirche zur Last legen darf.