„Die Kirche darf nicht schweigen“

Papst Johannes Paul II. am 1. Mai 1987 auf dem Schlossplatz in Münster

Verehrter Herr Bischof,
liebe Brüder und Schwestern!

(…) Unter den Glaubenszeugen ragt durch seinen großen Bekennermut euer unvergesslicher Bischof und Kardinal Clemens August Graf von Galen hervor – der „Löwe von Münster“, wie ihn der Volksmund voller Bewunderung und Anerkennung nennt. Ich bin heute nach Münster gekommen, um sein Grab zu besuchen und dort zu beten.

Bischof von Galen stand in seinem mutigen Glaubenszeugnis damals jedoch nicht allein. Glauben geschieht ja in der Gemeinschaft der auf den dreifaltigen Gott getauften Mitchristen. Glauben geschieht in der Gemeinschaft der Zeugen der Wahrheit. Zu allen Zeiten habt ihr solche hier im Bistum Münster gehabt: Zeugen der Wahrheit, die wie Leuchtfeuer sind in dunkler Nacht und über allen Regionen eures Bistums aufstrahlen.

Ihr Christen im Bistum Münster, ihr jungen Menschen, die ich hier besonders ansprechen möchte: Schaut auf diese „Wolke von Zeugen“ (Hebr 12, 1), wie die Heilige Schrift sagt. Hier sind sie – die Vorbilder! Hier wird kraftvoll und anschaulich gesagt, wie das geht: glauben. Hier wird deutlich, dass die Welt nur verändert wird durch ein Leben aus der Bindung an Gott und sein befreiendes Wort. So siegt die Liebe über die Bosheit; so überwindet Versöhnung den Hass; so erhebt sich die Großmut des Glaubens über die Enge und Selbstbezogenheit des Menschen. (…)

Wenn ich heute zu euch von Kardinal von Galen spreche, denke ich zugleich auch an die Gläubigen, für die er als Bischof bestellt war. Ich gedenke der unzähligen Frauen und Männer, der Jungen und Alten, die in Oldenburg, im Münsterland, am Niederrhein aufstanden in großer Einmütigkeit, die zusammen mit ihrem Bischof ein Bekenntnis ablegten für den Glauben – und für das Kreuz. Ebenso denke ich an die zahlreichen engagierten evangelischen Christen in der Bekennenden Kirche. Weil sich das gläubige Volk in Begeisterung und Liebe eng um seinen Bischof scharte, konnten es sich die Herrscher der damaligen Zeit nicht leisten, die Stimme des mutigen Oberhirten aus Münster zu überhören oder gar gewaltsam zum Schweigen zu bringen.

Liebe Brüder und Schwestern! Bischof von Galen hat gegen einen weltlichen Totalitätsanspruch deutlich und mutig die elementaren Wahrheiten christlicher Ethik: die zehn Gebote verkündet. Das „Du sollst nicht …!“ des göttlichen Gebotes war seine Antwort auf die Herausforderung durch einen Diktator, der in seiner menschenverachtenden Machtausübung die Würde und die Grundrechte des Menschen sowie die unabdingbaren Normen eines menschenwürdigen Zusammenlebens auf das schwerste verletzte.

Als Bischof Clemens August im Jahre 1941 in den bekannten drei großen Predigten seine Stimme erhob, hat er in einer Zeit der Lüge Zeugnis abgelegt für die Wahrheit. Gegen die Lehre von einer schrankenlosen Selbstbestimmung des Menschen, von einer Freiheit, die keine Grenzen mehr anerkennen will, hat er damals gesagt: Der Mensch ist von Gott geschaffen, von Gott geliebt, von ihm getragen. Diese Herkunft ist der Adel des Menschen und zugleich seine Aufgabe: Er wird wahrhaft Mensch, wenn er sich frei und treu an Gott bindet und sein Leben auf ihn als höchstes Gute ausrichtet. Wählt der Mensch für sein Leben aber ein geschaffenes Ziel und gibt sich ihm ausschließlich hin, so wird er zum Sklaven: Er verliert seine eigentliche Würde; Verwirrung, Chaos und Tod sind die tragischen Folgen.

Prophetisch sind die Worte, die Bischof von Galen als Kämpfer für die Menschenrechte ausgerufen hat, als die Nationalsozialisten anfingen. Geisteskranke als sogenannte unproduktive Volksgenossen zu verschleppen und zu töten. Er sagte damals: Eine Lehre macht sich breit, „die behauptet, man dürfe sogenanntes ‚lebensunwertes’ Leben vernichten, also unschuldige Menschen töten, wenn man meint, ihr Leben sei für Volk und Staat nichts mehr wert. Eine furchtbare Lehre, die Ermordung Unschuldiger rechtfertigen will, die die gewaltsame Tötung der nicht mehr arbeitsfähigen Invaliden, Krüppel, unheilbar Kranken, Altersschwachen grundsätzlich freigibt . … Hier handelt es sich aber um Menschen, unsere Mitmenschen, unsere Brüder und Schwestern. … Hast du, habe ich nur solange das Recht zu leben, solange wir produktiv sind? Solange wir von anderen als produktiv anerkannt werden? … Du sollst nicht töten! Dieses Gebot Gottes, des einzigen Herrn, der das Recht hat, über Leben und Tod zu befinden, war von Anfang an in die Herzen der Menschen geschrieben. … Gott hat dieses Gebot gegeben, unser Schöpfer und einstiger Richter!“ (Clemens-August von Galen, Predigt am 3. August 1941).

Diese Worte sollten keineswegs in Geschichtsbüchern und Archiven begraben bleiben; sie sind hochaktuell, auch in demokratischen Staaten, in denen gilt, dass das Volk selbst, also die Menschen gemeinsam ihr Zusammenleben in Würde und Freiheit gestalten sollten. Wieder gibt es heute in der Gesellschaft starke Kräfte, die das menschliche Leben bedrohen. Euthanasie, Gnadentod aus angeblichem Mitleid, ist erneut ein erschreckend häufig wiederkehrendes Wort und findet ihre neuen irregeleiteten Verteidiger. Auch kann die Kirche zur fast völligen Freigabe der Abtreibung in eurem Land und in zahlreichen anderen Ländern nicht schweigen. Gewiss wird sie durch ihre Seelsorger und verantwortlichen Laien jeder einzelnen schwangeren Frau, die sich in Schwierigkeiten fühlt, mit aufrichtiger Anteilnahme und Güte begegnen und ihrer Lage, soweit wie möglich, Verständnis und konkrete Hilfsbereitschaft entgegenbringen. Der Gesellschaft gegenüber darf die Kirche aber nicht schweigen; auch dann nicht, wenn schon eine ehrliche Erörterung der gegenwärtigen Abtreibungssituation als lästiges Rühren an ein Tabu abgelehnt wird. Von Politikern und Gestaltern der öffentlichen Meinung, die sich noch ethischen Grundsätzen oder sogar dem christlichen Glauben verpflichtet fühlen, erwartet die Kirche eine Hilfe, damit die wissenschaftlichen Ergebnisse von Embryologie und Psychologie im Bereich der Schwangerschaft und Abtreibung mehr zur Kenntnis genommen werden und die praktischen Entscheidungen der Menschen immer wirksamer mitbestimmen. Die gesetzliche Indikationsregelung selbst und ihre konkrete Handhabung sollten von den Verantwortlichen einmal unvoreingenommen daraufhin überprüft werden, ob sie nicht - statt Leben zu schützen - im Gegenteil viele Menschen geradezu in dem irrigen Eindruck bestärken, hier gehe es um ein fast belangloses, in sich sogar erlaubtes Tun, zumal man ja nicht einmal die finanziellen Ausgaben dafür persönlich zu tragen braucht.
Die Kirche muss auch heute mit Nachdruck, Klarheit und Geduld eintreten für das Lebensrecht aller Menschen, vor allem der noch ungeborenen und deshalb besonders schutzbedürftigen Kinder; sie muss eintreten für die uneingeschränkte Geltung des 5. Gebotes: Du sollst nicht töten. Entgegen aller Wortkosmetik und Reflexionsverweigerung ahnen doch wohl die allermeisten: Abtreibung ist bewusste Tötung von unschuldigen Menschenleben. Es ist ermutigend, dass bereits eine neue Nachdenklichkeit bei vielen Menschen einsetzt, weil sie immer stärker die Inkonsequenzen im heutigen moralischen Werten und Urteilen bemerken. Keine Friedensbewegung verdient doch diesen Namen, wenn sie nicht mit gleicher Kraft den Krieg gegen das ungeborene Leben anprangert und dagegen anzugehen versucht. Keine ökologische Bewegung kann ernst genommen werden, wenn sie an der Misshandlung und Vernichtung ungezählter lebensfähiger Kinder im Mutterschoß vorbei sieht. Keine emanzipierte Frau dürfte sich über ihre vermehrte Selbstbestimmung freuen, wenn diese erreicht worden wäre gegen ein menschliches Leben, das ihrem Schutz anvertraut war und auch bereits ein Recht auf Selbstbestimmung besaß. Nehmen wir doch endlich auch den Menschen selbst auf unter die Güter, die unseren höchsten Schutz verdienen und für die es sich lohnt, um breite Zustimmung unter der Bevölkerung zu werben! So müsste es gerade für Arzte und Sozialarbeiter, für Parlamentarier, Journalisten und Lehrer eine besondere Gewissenspflicht sein, für den Rechtsschutz des Lebens auch öffentlich einzutreten.

(...) Letztlich lebt unsere Welt von der Güte und Barmherzigkeit, die Gott uns schenkt und mit der die einzelnen Menschen einander begegnen. Warten wir nicht alle darauf, dass jemand gut zu uns ist, uns anerkennt, uns ermutigt oder tröstet, uns hilft, wo wir Unterstützung brauchen? Wo die Güte des Herzens das Leben prägt, ist Platz auch für den schwachen, den alten, den verletzten Menschen; dort ist auch Platz und Zukunft für den noch ungeborenen Menschen im Mutterleib. Die Erfahrung der Barmherzigkeit weckt in uns die Hoffnung, schließlich einmal einer letzten, unüberbietbaren Güte zu begegnen: der unendlichen und ewigen Menschenfreundlichkeit Gottes.

Gott ist der Erste; er ist auch der Letzte und Ewige. Von ihm kommt alles Leben; auf ihn geht unser Leben zu. Von Gott her - zu Gott hin: das ist der Weg des Menschen. Wähle das Leben! Wähle das ganze Leben! Wähle damit auch dein ewiges Leben!